Dieser Post ist Teil der Serie „Alltagsschnipsel”. Diese basiert auf der „21 days of writing journey” von Mike Dooley aka. the Universe talks und bei der jeden Tag ein neues Stichwort zum Nachdenken und Schreiben einlädt. Tag 10: „Erzähle, wie du noch tiefer in den Raum deiner Stille vordringen kannst.”
Alles ist im Fluss und der Weg ist das Ziel. Trust the process.
„Es ist alles ein Prozess.” Das haben wir alle schon so oft gehört. Ihr doch bestimmt auch. Gerade unter Leuten, die sich mit Spiritualität, Wachstum und Selbstentfaltung und -wachstum befassen, ist doch immer alles ein und im Prozess. Klar: Entwicklung = Prozess. Wir honorieren den Fluss, die Entwicklung, den Weg (denn der Weg ist das Ziel! ;), die Reise. Wir erlauben uns, nicht perfekt zu sein, wissen, dass wir es nicht sind und nicht sein müssen, sondern, dass wir im Werden begriffen sind.
Obwohl diese Wahrheit und Weisheit so allgegenwärtig ist, hatte ich sie lange nicht wirklich verinnerlicht. Was bedeutet das nämlich eigentlich? Es bedeutet u.a., dass man Geduld übt.
Ich war ein geduldiges Kind, ruhte in mir selbst, konnte mich stundenlang mit mir selbst beschäftigen ohne mich zu langweilen. Ich hatte es nicht eilig und war definitiv niemand, der Hektik verbreitete. Das ist auch heute noch so, doch die Geduld ist mir irgendwo auf dem Weg (!) abhanden gekommen.
Wann sind wir endlich da?
Meine Güte, echt: was war ich in den letzten Jahren ungeduldig! Mit mir selbst und mit anderen. Vor allem aber mit mir selbst. Ich konnte die Schönheit des Prozesses nicht sehen, wollte sie nicht sehen, wollte immer sofort von A nach B und mich nicht mit den einzelnen Schritten des Weges aufhalten. Obwohl mir logisch betrachtet total klar war, dass man all die Schritte schon selbst gehen muss, fiel es mir irre schwer, das zu akzeptieren und die Geduld dafür aufzubringen. Ich wollte nicht gehen, ich wollte mich beamen. Bzw. noch nicht mal das: eigentlich wollte ich mich schon gebeamt haben, so ungeduldig war ich.
But oh, the road is long. The stones that you are walking on have gone …
Diese Ungeduld, gespeist von einem „Du musst etwas erreichen / erreicht haben”, das ich mir zu allem Überfluss auch noch selbst ins Ohr wisperte, setzte mich immer mal wieder unter einen ganzen schönen Leistungsdruck. Vor allem seit ich vollständig selbstständig bin. Ist ja klar: Wenn man von sich selbst erwartet, am besten gestern schon am Ziel und noch weiter gewesen zu sein, kann man mit sich selbst und den aktuellen Erfolgen und Errungenschaften schwerlich seinen Frieden schließen.
Vielleicht wurde Meditation deshalb so wichtig für mich? Um hier einen Ausgleich zu schaffen. Liegt nahe … Ich schreibe hier „war”, nicht weil ich nicht mehr meditiere 😉 sondern weil die Eile und der Druck inzwischen fort sind. Weil die Ungeduld sich in Geduld gewandelt hat und ich inzwischen endlich in der Lage bin, den Prozess wieder zu genießen.
The Whipper – mein persönlicher Sklaventreiber
Diese Verwandlung hat mit einer folgenschweren Begegnung zu tun. Denn ich wusste zwar, wie der Mechanismus meiner Ungeduld funktionierte und ich wusste auch, dass der Druck, den ich fühlte, selbstgemacht war. Dennoch konnte ich das Dilemma nicht lösen. Bis ich eines Tages vor ein paar Monaten den „Whipper” kennenlernte. Das ist ein Wesen, das in mir steckt und mich mithilfe einer Peitsche antreibt. Daher der Name.
Ich glaube, viele von uns haben so einen Whipper, auch wenn er wahrscheinlich für jeden und jede von uns eine andere Form annimmt. Meiner jedenfalls stand ständig mit dieser Peitsche hinter mir. In fast jedem Moment meines wachen Lebens, vor allem aber, wenn es um Beruf und Karriere geht. Um das, was von der Gesellschaft als messbarer Erfolg gewertet wird. Das Ding mit diesem Whipper ist: Ich fühlte seine Präsenz, doch so diffus und subtil verinnerlicht, dass ich gar nicht genau hinschaute und ihn so gar nicht sehen konnte. Ich fühlte den Druck in mir. Darauf, dass er aus einer anderen Quelle als aus mir selbst kommen könnte – eine internalisierte Stimme von außen – kam ich nicht.
Das änderte sich in einer Coaching-Session, in der ich mich in einer Art meditativen Trance mit dem Gefühl der Unruhe, der Ungeduld und des Drucks verbinden sollte. Normalerweise kommen mir in solchen Übungen keine Visionen, doch diesmal war alles anders und das Bild gestochen scharf. Ich sah mich am Schreibtisch setzen und hinter mit stand: ein zweites Ich. Ohne Herz, eiskalt, dafür mit Peitsche. Dieser Whipper verbreitete eine eiskalte, unnachgiebige Atmosphäre und vermittelte mit das Gefühl, ich müsse mich noch mehr und noch mehr anstrengen, dürfe die Gaben, die mir das Leben mitgegeben hatte – Intelligenz, Charme, Schönheit, Gesundheit – unter keinen Umständen verspielen, sondern müsse JETZT. SOFORT. ETWAS. DRAUS. MACHEN.
Die Verwandlung
Woher ich dieses Gefühl der Schuldigkeit habe, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Aber dass dies die Wurzel des Übels war, wurde hier auf fast schon absurd-plakative Weise sichtbar. An dieser Stelle forderte mein Coach mich auf, einen Gegenspieler aufs Feld zu rufen: den yellow-eyed dragon, mein Krafttier. Wie gesagt, normalerweise klappt sowas bei mir nicht, aber auch jetzt wieder erschien mein Drache wie auf Knopfdruck und gestochen scharf. Er schwebte durchs Fenster ins Bild, gab keinen Laut von sich, war einfach präsent. Augenblicklich wich der Whipper eingeschüchtert zur Seite, zog die Schultern ein, schaute verängstigt. In dem Moment verstand ich: Der Whipper hat Angst. Der Whipper IST die Angst.
Und dann geschah die Verwandlung … Der Whipper warf seine Peitsche weg und legte stattdessen seine / ihre Hände auf meine Schultern, massierte mich sanft (hä, was geht?) und beugte sich schließlich vor, um mir freundliche Worte der Ermutigung ins Ohr zu flüstern. Wow!
Ich begriff: Der Whipper ist nicht per se schlecht. Allerdings hat er die komplett falschen Mittel gewählt, nämlich Angst, Gewalt und Drohungen. Seine Motivation ist, mich anzutreiben. Und das ist ja auch gut so. Auch im Hinblick auf den Weg und das Ziel (ja, ich habe das eigentliche Thema des Artikels noch im Kopf). Denn wenn man gar kein Ziel hat, dann geht man vielleicht auch nicht los. Dann ist da weder ein Prozess, dem man vertrauen kann, noch viele einzelne Schritte und Etappen, die man gehen und auf denen man etwas lernen und wachsen kann.
Den Prozess mit Sanftheit genießen
Mir rannen inzwischen die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen. Wie viele Male hatte ich mir durch den Druck und die Ungeduld die Freude am Tun vergällt? Wie oft war ich so hart zu mir gewesen wie ich sonst zu niemandem sonst jemals wäre? Wie viel Freude, Spaß und Leichtigkeit hatte ich mir genommen? Und das zudem, obwohl ich für viele nach Außen immer sehr leichtfüßig wirke. Im Innern sah das oft ganz anders aus. Und das lag nicht daran, dass ich mich anderen gegenüber verstellte: Ich konnte anderen gegenüber viel weicher und sanfter sein als mir selbst.
Ich fühlte mich elendig, tief traurig, verletzt und hatte solches Mitleid mit meinem armen Selbst, dass ich hemmungslos schluchzte. Mit meinem Coach per Zoom direkt dabei. Scheißegal.
Gleichzeitig fühlte ich mich aber auch unheimlich leicht und gut. Befreit von einer zentnerschweren Last, die von meinen Schultern und meinem Herz genommen waren. Befreit und dankbar.
Stop chasing shadows just enjoy the ride …
Tja und seitdem … Es klingt vielleicht fast zu einfach, ich weiß, aber ich schwöre euch, so ist es: Seitdem kann ich den Prozess wieder genießen, wie als ich klein war. Ich erfreue mich an jedem kleinen Schritt. Geduld und Präsenz fließen durch meine Adern. Alles ist gut, genauso wie es gerade ist und ich habe nicht mehr das Gefühl, irgendwo anders sein zu müssen, als ich gerade bin. Ich bin achtsam im Flow. Voller Vertrauen. Ich geben den Dingen die Zeit, die sie brauchen und gebe vor allem MIR die Zeit, die ich brauche. No need to jump the gun.
Ich habe Freude daran, langsam zu gehen und zu lernen. Mal bummel ich den Weg entlang, mal tanze ich ihn. Mal lege ich doch einen kleinen Sprint hin, mal gehe ich rückwärts. Mal im Hopserlauf, mal auf Zehenspitzen. Und alles ist gut. Ich sehe die Blumen am Wegesrand und andere Wunder. Ich treffe Tiere, Vögel, Menschen. Ich bleibe stehen und wir unterhalten uns. Manchmal begleiten sie mich ein Stück. Das ist das Leben. Es ist ein Weg und der Weg ist das Ziel. Wir sind nicht hier, um eilig irgendwo anzukommen.
Das verstanden zu haben ist das schönste Geschenk. Und ich freue mich auf alles, was noch kommt.
With the moonlight to guide you
Feel the joy of being alive
The day that you stop running
Is the day that you arrive
And the night that you got locked in
– Morcheeba „Enjoy the ride”
Was the time to decide
Stop chasing shadows
Just enjoy the ride
P.S. Der Whipper ist übrigens nach wie vor verschwunden. Vielleicht macht er sich gerade eine schöne Zeit irgendwo da draußen. Schaut sich mal die Welt an, wandert den Jakobsweg und genießt den Weg … Wer weiß?